Rettungsboot Gettr? Warum die Plattform im Kielwasser von Telegram dümpelt

01. Juli 2022

 Autor:innen: Lea Gerster und Richard Kuchta

 Diese Kurzanalyse ist im Rahmen des vom Bundesministerium der Justiz (BMJ) geförderten Projektes »Radikalisierung in rechtsextremen Onlinesubkulturen entgegentreten« entstanden. Die inhaltliche Verantwortung liegt ausschließlich bei ISD Germany. Die Analyse wurde mit Hilfe von Method52 durchgeführt, einem von CASM Technology LLP, London, entwickeltem und gemeinsam mit ISD gepflegtem Tool für die Sammlung, Verarbeitung und Analyse großer Datenmengen aus sozialen Medien. _________________________________________________________________________________

Einführung

Der Sturm auf das US-amerikanische Kapitol am 6. Januar 2021 kann retrospektiv als Geburtsstunde von GETTR betrachtet werden. Der Angriff auf die politische Machtzentrale der USA führte zu Umwälzungen in der Trump-affinen Onlinesphäre und bereitete den Boden für neue Portale. Die persönlichen Konten des ehemaligen US-Präsidenten wurden infolge der Ausschreitungen von zentralen sozialen Netzwerken wie Facebook, YouTube und Twitter gesperrt. Parler, ein bei Trump-Anhänger:innen beliebter und mit Verschwörungserzählungen durchzogener Twitter-Klon, ging offline, nachdem bekannt wurde, dass sich an den Unruhen beteiligte Akteur:innen  über diese Plattform organisiert hatten.

Gettr war ein Versuch, das Vakuum an Trump-nahen Onlineräumen zu füllen. Gegründet im Juli 2021 vom ehemaligen Trump-Berater Jason Miller, versprach GETTR – kurz für »Get together« – eine Plattform »ohne Vorurteile« zu sein und keine von anderen Plattformen gesperrten Inhalte zu entfernen. Die Entstehungsgeschichte von GETTR führte zu Befürchtungen, dass GETTR zu einem zentralen Sammelplatz für Rechtsextreme und Desinformationsakteur:innen werden könnte. Diese Sorge scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt unbegründet (Stand Juni 2022). Sowohl die Nutzer:innenzahl als auch die Art der geposteten Inhalte werfen Zweifel auf, wie wichtig die Plattform für die rechtsradikale bis rechtsextreme Szene wirklich ist. Die folgende Analyse zeigt, warum GETTR in Deutschland möglicherweise viel weniger Nutzer:innen, Interaktionen und damit Bedeutung hat, als die Plattform es selbst darstellt. Seit der Veröffentlichung der englischsprachigen Kurzanalyse des ISD-Teams vom 17. März 2022 haben die Verlinkungen zu GETTR via den Messenger-Dienst Telegram zwar deutlich zugenommen. Eine mögliche Erklärung dafür ist die Zunahme an Sperrungen von Gruppen oder Kanälen, die extremistische Inhalte oder Desinformationen verbreiten. Daher ist es naheliegend, dass gewisse Personen ein GETTR-Konto als Rückfalloption erstellen. Dennoch haben die meisten dieser Personen und Organisationen ein wesentlich kleineres Publikum auf GETTR als auf Telegram.

Widersprüchliche Daten über Follower

 Auf den ersten Blick sieht GETTR aus wie Twitter, einfach in Rot statt Blau. GETTR verwendet sogar Daten von Twitter, um sie den eigenen Followerzahlen zuzurechnen. Dies war unmittelbar nach dem Start im Juli 2021 noch undeutlich, als neu erstellte GETTR-Konten eine überraschend große und unrealistisch erscheinende Anzahl von Followern verzeichneten. Nachdem sich der Podcast-Moderator Joe Rogan Anfang 2022 darüber beschwerte, dass die Plattform seine Twitter-Follower zu seinen Followern auf GETTR rechnete, änderte GETTR die Metriken. Die Plattform unterscheidet zwischen »GETTR-Followern« und »Gesamtanzahl Follower«. Dennoch sind auch diese Angaben nicht einheitlich, da nicht jedes GETTR-Konto mit einem Twitter-Account verbunden ist. Zudem stimmen die auf GETTR angezeigten Follower-Statistiken für Twitter nicht immer mit denen der Plattform überein. GETTR liefert dafür keine klare Erklärung.

Ein Beispiel: Boris Reitschuster, ein deutscher Journalist, bekannt für die Verbreitung von Falschinformationen über Covid-19, hat laut GETTR 96.600 Follower auf GETTR und 188.400 Follower insgesamt. Das lässt den Rückschluss zu, dass Reitschuster 91.800 Follower auf Twitter haben müsste.[1] Sein Twitter-Konto hatte zur Zeit der Datenerhebung jedoch 127.400 Follower. Frühere Daten über Reitschusters Follower auf Twitter zeigen, dass Reitschuster 91.800 Follower hatte, als er im Juli 2021 GETTR beitrat. Dies deutet darauf hin, dass GETTR Twitter-Daten für ausgewählte Konten bei der Registrierung sammelt. Festzuhalten ist, dass GETTRs Umgang mit Twitter-Daten undurchsichtig ist und ohne Zustimmung der Nutzer:innen erfolgt. Die Vermutung liegt nahe, dass hier in jedem Fall die angebliche Reichweite verzerrt wird.

Gettr screenshot

Abbildung 1: Screenshot von Boris Reitschusters GETTR Account vom 7. März 2022.

Große Kluft zwischen der Größe des Publikums auf Twitter und GETTR

Ein Vergleich der verfügbaren Daten von GETTR und Twitter weist auf massive Unterschiede in den Followerzahlen hin. Die Daten verdeutlichen, dass GETTR nicht mit Twitter mithalten kann.

Diese Diskrepanz zeigt sich bei einer Reihe von deutschen Konten. Das Hauptprofil der rechtspopulistischen Partei »Alternative für Deutschland« (AfD) hat beispielsweise bei GETTR 13.500 Follower, bei Twitter aber 172.700. Die AfD-Politikerin Beatrix von Storch weist lediglich 3.231 Follower bei GETTR auf, jedoch 71.200 bei Twitter. Unter den 29 analysierten deutschsprachigen Konten gibt es nur zwei Fälle, wo Accounts auf GETTR ein größeres Publikum haben als auf Twitter. Ein Schweizer Rechtsextremist etwa verfügt über 35.900 Follower auf GETTR, aber nur über 2.791 auf Twitter. Die vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestufte Partei »Freie Sachsen« hat 6.720 Follower auf GETTR und nur knapp 2.023 auf Twitter. Beide Akteure haben jedoch mit fast 52.000 bzw. über 148.000 Followern eine höhere Anzahl von Anhänger:innen auf Telegram. Dies suggeriert, dass GETTR nicht die wichtigste Kommunikationsplattform für jene Akteure ist.

Followeranzahl auf GETTR Followeranzahl auf Twitter
AfD 13.500 172.700
Beatrix von Storch 3.231 71.200
COMPACT 5.291 32.900
Reiner Fuellmich 2.550 13.900
Ein Prozent 702 16.000

Tabelle 1: Followerzahlen auf GETTR und Twitter für ausgewählte Accounts. Datenerhebung vom 5. April 2022.

Ein Täuschungsmanöver? Verifizierte GETTR-Accounts von prominenten Rechtspopulist:innen sind inaktiv

Trotz GETTRs Versuchen, durch Beziehungen mit Persönlichkeiten aus dem rechtspopulistischen Spektrum neue Nutzer:innen zu gewinnen, bleiben mehrere prominente Konten inaktiv. Dies zeigt sich beispielsweise am Account von Alice Weidel, der Co-Vorsitzenden der AfD-Bundestagsfraktion. Nach Angaben der Plattform trat Weidel im Dezember 2021 GETTR bei. Ihr Feed enthält jedoch Beiträge, die zeitlich vor der Erstellung ihres GETTR-Kontos verfasst wurden und mit ihren Tweets identisch sind. Dies erweckt den Eindruck, dass auf diesem Konto sehr aktiv gepostet wird, obwohl die meisten (wenn nicht sogar alle Inhalte) direkt von Twitter importiert wurden. Erst am 16. März 2022 kam es wieder zu Aktivitäten auf Weidels GETTR-Konto. Auch diesmal waren die Posts identisch mit denjenigen ihres Twitter-Profils.

Gettr screenshot

Abbildung 2:  Screenshot von Alice Weidels GETTR Account vom 7. März 2022.

Gettr screenshot

Abbildung 3: Screenshot von Alice Weidels GETTR Account vom 22. März 2022.

Verlinkungen von Telegram auf GETTR

Um zu testen, ob es eine signifikante Abwanderung zu GETTR gibt, hat ISD Germany untersucht, wie viele Links zu GETTR auf Telegram, der bevorzugten Plattform der rechten Szene im deutschen Sprachraum, geteilt wurden. Zu diesem Zweck haben die Analyst:innen  sämtliche Verlinkungen zu GETTR in 223 rechtsextremen, rechtsradikalen und verschwörungsideologischen Telegram-Kanälen zwischen dem 1. Juli 2021 und dem 4. April 2022 gesammelt. In diesem Zeitrahmen wurden insgesamt 4.713 Links zu GETTR entdeckt. Darunter gab es 547 URLs, die zu GETTRs Domain führten.

Über den Beobachtungszeitrahmen hinweg lassen sich Unterschiede in der Häufigkeit an Verlinkungen beobachten. Nach ersten Verlinkungen Anfang Juli 2021, als die Seite zuerst online ging, flaute die Anzahl der Links zu GETTR ab. Anfang 2022, insbesondere ab Mitte Februar, nahm die Anzahl Links zu GETTR stark zu. Es ist schwierig, einen ausschlaggebenden Grund für diesen Sachverhalt zu identifizieren. Jedoch gibt es möglicherweise einen Zusammenhang mit Telegrams verschärftem Vorgehen gegen verfassungsfeindliches Material und der Teilsperre von einschlägigen Kanälen, darunter diejenigen von Attila Hildmann und RT DE. So schrieb ein verschwörungsideologisches Medium am 13. Februar 2022 auf Telegram, man wisse nicht wie es mit Telegram weitergehe und habe daher ein GETTR-Konto eingerichtet. Laut den Kanalbetreiber:innen gäbe es zwar keine echten Alternativen zu diesem Messenger-Dienst, aber ihre Leser:innen sollten sich neue Kommunikationswege für den Fall einer Sperre schaffen.

Telegram screenshot

Abbildung 4: Telegram-Nachricht eines Desinformationsmediums über eine mögliche Sperrung auf Telegram vom 13. Februar 2022.

Abbildung 5: Anzahl Links zu Gettr in einer Auswahl von rechtsextremen, rechtsradikalen und verschwörungsideologischen Telegram-Kanälen im Zeitraum zwischen dem 1. Juli 2021 und 4. April 2022.

Die zehn meist geteilten GETTR-Links gehören zu Profilen, die auch mindestens einen Telegram-Kanal unterhalten. Trotz der häufigen Verlinkungen zu GETTR haben alle verlinkenden Akteure auf Telegram eine größere Reichweite. Abgesehen von einem Schweizer Rechtsextremisten, der auf GETTR etwa 75% seiner Anzahl an Follower auf Telegram hat, sind die Abozahlen auf GETTR wesentlich niedriger als auf Telegram. Zwei Kanäle konnten auf GETTR 27.4% bzw. 22.7% ihrer Abozahlen auf Telegram erreichen. Jedoch liegt die GETTR-Followerzahl bei der Hälfte dieser Top-Kanäle unter 7% des Telegram-Publikums.  Da Links zu GETTR in diesen Kreisen vor allem zur Selbstvermarktung dienen, fügen die jeweiligen Akteure ihren Beiträgen meist einen entsprechenden Link an und rufen dazu auf, ihr GETTR-Konto zu abonnieren. Solche Links werden erfasst, wenn jene Beiträge von Kanälen weitergeleitet werden, von denen ISD Germany Daten gesammelt hat.

Der Anstieg von Verlinkungen seit Anfang 2022 scheint mit dem Verhalten gewisser prominenter Nutzer:innen verbunden zu sein. 35% aller Links gehen auf den oben erwähnten Schweizer Rechtsextremisten zurück, der sein GETTR-Profil immer wieder als Teil einer Multiplattform-Strategie verlinkte. Ein rechtsradikaler YouTuber, der ebenfalls Kanäle auf zahlreichen alternativen Plattformen unterhält, erstellte sein GETTR-Profil zwar bereits im Juli 2021, verlinkte aber in jenem Jahr nur zweimal auf GETTR. Ab dem 14. Januar 2022 begann er jedoch, fast täglich sein GETTR-Profil via Telegram zu verlinken. Einer der Haupttreiber für die vermehrten GETTR-Verlinkungen auf Telegram scheint der Kanal eines Desinformationsmediums zu sein, das bis Anfang März 2022 das eigene GETTR-Profil etwa einmal pro Tag teilte, aber ab dem 8. März 2022 mehrmals täglich. Zudem tauchten neue GETTR-Links auf. So befand sich unter den zehn meist geteilten Links ein GETTR-Profil, das zu einem prominenten QAnon-Telegramkanal gehört, und erstmals am 13. Februar 2022 in Erscheinung trat. Jedoch liegen die Abozahlen des entsprechenden GETTR-Profils bei nur 2.2%  seiner Reichweiteauf Telegram.

Fazit

Zum jetzigen Zeitpunkt scheint es unwahrscheinlich, dass GETTR zur nächsten zentralen Anlaufstelle für deutschsprachige Rechtsextreme wird. Erstens scheint die tatsächliche Anzahl der Follower auf GETTR wesentlich geringer zu sein als auf der Plattform dargestellt, weshalb die tatsächliche Reichweite dieser Profile deutlich geringer ist als auf Twitter. Zweitens scheint GETTR nur von einer Handvoll Einzelpersonen und Szene-Promis genutzt zu werden, die sich oft mehrerer Online-Plattformen bedienen und daher nicht von GETTR als Kommunikationsmedium abhängig sind. Die mangelnde Aktivität auf GETTR und die vergleichsweise geringe Anzahl an Interaktionen lässt an den Erfolgschancen der Plattform zweifeln. Bestimmte Akteure scheinen GETTR als Backup für ihre Twitter- oder Telegram-Profile zu nutzen. Ein Indiz dafür ist die Zunahme an Verlinkungen zu GETTR auf Telegram seit der vermehrten Sperrung von rechtsextremen und verschwörungsideologischen Telegram-Kanälen.

Als Alternative zu Telegram – der zentralen Plattform des rechtsextremen Onlinespektrums in Deutschland – taugt GETTR jedoch kaum, denn die Plattform hat teils strengere Regeln für die Moderation von Inhalten. So verbieten die Nutzungsregeln zumindest theoretisch die Verbreitung von beispielsweise Drohungen, Diffamierungen und Hetze. GETTR scheint bisher lediglich als Backup-Dienst zu fungieren, der es momentan in Deutschland kaum vermag, selbst organische Interaktionen zu produzieren oder Nutzer:innen mit eigenen Inhalten anzulocken. Es handelt sich daher eher um eine Schwimmweste als um ein neues Flaggschiff des rechtsextremistischen Online-Milieus.

 

[1] alle Daten vom 05. April 2022.